Der Chef im Kostendschungel
Wie findet man heraus, was die Stilllegung der Kernkraftwerke und die Entsorgung aller Abfälle kosten? Kostenstudienleiter Paolo Mini von swissnuclear weiss Bescheid.
Swissnuclear wird Ende September eine neue Kostenstudie publizieren. Was ist eigentlich diese Kostenstudie?
Wenn die Schweizer Kernkraftwerke eines Tages vom Netz gehen, müssen sie zurückgebaut und alle Abfälle entsorgt werden. Die Betreiber sind per Gesetz und nach dem Verursacherprinzip dafür verantwortlich, dass das alles professionell gemacht und zuverlässig finanziert wird. Dazu müssen sie aber wissen, was das alles kosten wird. Wir berechnen das, zu heutigen Marktpreisen, also wie wenn die Kernkraftwerke heute abgerissen, ein geologisches Tiefenlager gebaut und alle Abfälle darin entsorgt würden. Ein solche Kostenstudie macht swissnuclear alle fünf Jahre – ein für uns sehr wichtiges Projekt.
Warum ist die Kostenstudie so wichtig?
Solange die Kernkraftwerke Strom und Einkünfte erzeugen, können die Betreiber ihre laufenden Entsorgungskosten direkt bezahlen: Für die verbrauchten Brennelemente und andere radioaktive Betriebsabfälle, die bis zur Entsorgung im geologischen Tiefenlager sicher verpackt zwischengelagert werden. Nach der Ausserbetriebnahme eines Kernkraftwerks fliessen aber keine finanziellen Einkünfte mehr: Dann wird die Anlage zurückgebaut. Das geologische Tiefenlager muss gebaut, betrieben und nach dem endgültigen Verschluss auch noch eine Weile beobachtet werden. All diese Kosten müssen vorfinanziert werden, und zwar per Gesetz innert 50 Betriebsjahren. Um das nötige Geld rechtzeitig zur Seite zu legen, haben die Betreiber zwei Fonds geschaffen, den Stilllegungs- und den Entsorgungsfonds. In diese Fonds zahlen sie seit Jahrzehnten Geld ein: Rund ein Rappen pro Kilowattstunde Nuklearstrom, ähnlich einer vorgezogenen Entsorgungsgebühr. Die unabhängige Verwaltungsstelle der beiden Fonds, die Stenfo, braucht aber eine präzise Kostenstudie, um genau auszurechnen, wie viel jedes Kraftwerk insgesamt und jährlich in die Fonds einbezahlen muss, damit am Schluss genug Geld für Stilllegung und Rückbau vorhanden ist.
Und wie berechnet man das?
Zuerst berechnen wir alles, das mehr oder weniger einfache Ingenieurarbeit ist und gut abgeschätzt werden kann: Ausnahmslos sämtliche Kosten vom Abriss und Abtransport von Abfällen aller Art, wovon das meiste Bauschutt und metallische Abfälle ist, die rezykliert werden können. Dazu kommt die Reinigung der radioaktiven Teile («Dekontaminierung») und Entsorgung jener Abfälle, die nicht gereinigt werden können. Dann auch der Bau und Betrieb des Tiefenlagers und seiner Oberflächenanlagen. Das ergibt die Basiskosten. Diese sind sehr belastbar und verlässlich. Doch dazu berechnen wir auch noch Kosten für Prognoseungenauigkeiten, die man nie ganz ausschliessen kann, z.B. Änderungen von Massen, Stundenaufwänden, Materialpreisen. Und wichtig ist auch, dass wir alle möglichen Risiken einpreisen. Dieser Kostenblock für Risiken wird auch auf die Basiskosten aufgeschlagen. Diese Zuschläge betragen mehr als ein Drittel der Basiskosten. Die Gesamtkosten werden also klar strukturiert und nach einer vom Bund vorgegebenen Methodik berechnet. Sie sind sehr transparent und im Detail leicht nachvollziehbar.
Welche Risiken sind denn da miteinkalkuliert, und vor allem sind genügend Risiken erfasst?
Wir erfassen ein sehr breites Spektrum von Risiken. Es reicht von eher plausiblen Risiken, die sich seitens Technik und Natur stellen, wie z.B. Logistik- und Lieferantenprobleme, über Risiken seitens Politik und Gesetzgebung, wie z.B. Kostensteigerungen aufgrund von Gesetzesverschärfungen oder auch Kostensenkungen durch Prozessoptimierung. Extrem unwahrscheinliche Risiken, wie z.B. einen Flugzeugabsturz oder Meteoriteneinschlag, lassen wir aber weg. Ein Risiko kann dabei eine Gefahr oder eine Chance sein, also Mehrkosten oder Kosteneinsparungen zur Folge haben. Jedes Risiko wird nach der Wahrscheinlichkeit seines Eintretens und der möglichen Kostenfolgen abgeschätzt.
Sind die Kostenstudien wirklich verlässlich? Es dauert doch noch sehr lange, bis das Projekt fertig ist.
Doch, diese Zahlen sind verlässlich. Und das Risikopolster ist sehr gross und bietet viel Sicherheit. Die Belastbarkeit der Kostenstudie nimmt laufend zu, auch weil Risiken ja laufend durch die Realität abgelöst werden. Mit jeder Kostenstudie können wir dem weltweiten Erfahrungszuwachs aus dem Kraftwerksrückbau, den Erkenntnissen der Forschung und der wirtschaftlichen Entwicklung Rechnung tragen. Zum Beispiel wussten wir bei der letzten Kostenstudie im 2016 noch nicht, dass alle möglichen Standorte für ein geologisches Tiefenlager genügend Platz für ein sicheres Kombilager haben. Das haben wir erst kürzlich durch die Tiefenbohrungen der Nagra erfahren. Das hat nun zur Folge, dass wir zwar immer noch berechnen, was getrennte Lager an zwei unterschiedlichen Standorten kosten würden, aber jetzt eine deutliche grössere Chance haben, dass ein Kombilager an einem Standort gebaut wird. Insbesondere die stabile Höhe der Basiskosten zeigt, dass unsere Berechnungen belastbar sind. Selbst der Bau eines Tiefenlagers ist, genau wie der Tunnelbau, keine Hexerei. Da ist die Schweiz ein Profi.
Haben Sie das immer schon so gemacht?
Die heutige Struktur und Methodik gilt seit der Kostenstudie von 2016. Vorher hat man nicht ganz so vielen Risiken Rechnung getragen. Bei der Kostenstudie 2021 müssen wir zudem neu einige Kosten in Varianten ausrechnen. Zum Beispiel was es kostet, wenn das KKW mit sämtlichen Fundamenten abgebaut wird, wenn ein Teil der Fundamente übriggelassen wird (beim Abbau von Windkraftwerken ist das auch so) oder wenn man es nur so weit zurückbaut, dass die Anlage nicht mehr radioaktiv ist als die natürliche Umgebung, sodass sie aus dem Kernenergiegesetz entlassen und industriell umgenutzt werden kann – also die Lagerhallen, Bürogebäude, Werkstätten usw.
Machen Sie das alles alleine?
Nein, eine Kostenstudie ist ein riesengrosser Aufwand und bedeutet jedes Mal rund 38 Mannjahre Arbeit! Ein Team von Spezialisten unterstützt mich dabei, Kollegen in den Werken und bei der Nagra. Sie bringen alle viel technisches Expertenwissen und Erfahrung aus dem Betrieb von KKW im In- und Ausland ein. Und grosse Teile der Arbeit werden auch an sehr bewährte spezialisierte Firmen in Auftrag gegeben. Die Koordination der ganzen Arbeiten und die Publikation der Kostenstudie liegt aber bei swissnuclear resp. bei mir. Wir machen die Kostenstudien nach bestem Wissen und Gewissen der involvierten internen und externen Fachleute aus dem In- und Ausland.
Und wie stellen Sie sicher, dass die Kostenberechnungen stimmen?
Die Kostenstudie wird von einer ganzen Reihe von Akteuren aus dem In- und Ausland gründlichst überprüft: Das Eidgenössische Nuklearsicherheitsinspektorat ENSI prüft die sicherheitstechnischen Aspekte, ebenso eine Schweizer Ingenieursfirma und der deutsche TÜV Nord. Die Berechnungen selber werden von international renommierten Kostenprüfern unter die Lupe genommen. Das Bundesamt für Energie resp. das Eidgenössische Departement für Umwelt, Verkehr, Energie und Kommunikation UVEK überprüft sämtliche Zahlen und das Vorgehen. Zu guter Letzt prüfen die ETH Zürich und die Uni Basel sowie weitere Berater die Gesamtkosten und ob es allenfalls noch einen generellen Sicherheitszuschlag braucht. Eine derart sorgfältige und vorsichtige Kostenstudie gibt es weltweit kein zweites Mal.