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08.06.2021

Powerfrauen in der Kerntechnik

Annalisa Manera übernimmt im Sommer 2021 den Lehrstuhl für Nuclear Engineering an der ETH Zürich. Anna Varbella schliesst dort demnächst ihr Masterstudium ab. Swissnuclear traf die zwei Italienerinnen zu einem Gespräch.

Powerfrauen in der Kerntechnik

Annalisa Manera, Sie sind in Süditalien geboren, haben ihren Master in Nuclear Engineering an der Universität von Pisa gemacht und darauf ein Doktorat in Nuclear Engineering an der Uni Delft. Nach einem Aufenthalt am Helmholtz-Zentrum in Dresden waren Sie mehrere Jahre als Wissenschaftlerin in der Kerntechnik am Schweizer Paul Scherrer Institut tätig und sind seit 2011 Professorin für Nuclear Engineering and Radiological Sciences an der University von Michigan in den USA.  Und jetzt folgt die renommierte Professur an der ETH. Das ist ein weiter und sehr beachtlicher Weg. Wenn Sie sich zurück erinnern… Wollten sie schon als Mädchen Wissenschaftlerin werden?
Ich habe mich als Teenager in die Physik verliebt und jede Menge Bücher über Physik verschlungen. Auch hat mein Vater mir Wissenschaft zugänglich gemacht. Er war Professor für Bauingenieurwesen und nahm mich als kleines Mädchen öfters auf Exkursionen mit, wo ich die Messungen beobachtete. Letztlich hat mich mein Lehrer im Gymnasium vollends für die Physik begeistert.

Warum haben Sie denn beschlossen, aus der ganzen Palette der Physik gerade Kerntechnik als Studienfach zu wählen?
Ich war fasziniert von Albert Einsteins Buch «Die Evolution der Physik: von Newton bis zur Quantentheorie». Da der Arbeitsmarkt in theoretischer Physik aber in Italien damals eher schlecht war, entschloss ich mich in Richtung Engineering zu gehen. Nuclear Engineering umfasst einfach von allen Ingenieurstudien am meisten Physik. Das war sechs Jahre nach Tschernobyl – mein Vater war nicht besonders glücklich über meinen Entscheid, weil er um meine Karriere besorgt war.

Anna Varbella, auch Sie sind Italienerin und sogar nach dem Unfall in Fukushima in die Kerntechnik eingestiegen. In einem Land, das bereits aus der Kernenergie ausgestiegen war. Warum?
Tatsächlich waren meine Lehrer in der Unterstufe sehr antinuklear eingestellt. Aber als ich im Gymnasium Quantenmechanik zu lernen begann, hat mich das wie Frau Manera derart fasziniert, dass ich trotzdem beschloss, Physical Engineering zu studieren. Aus dem ganzen Lehrgang fand ich die Kernphysik das kompletteste und interessanteste Gebiet.

Gibt es weitere Frauen im Master in Nuclear Engineering?
Im Bachelorlehrgang Maschinenbau waren wir noch einige Frauen, doch im Master, den ich bald abschliessen werde, bin ich die einzige neben zwölf Männern. Handkehrum sind im neuen Jahrgang die Frauen jetzt sogar in der Überzahl, was mich sehr freut.

Aktuell sind wirklich sogar acht Frauen und sieben Männer im neuen Masterlehrgang. Was denken Sie, Anna, woher kommt plötzlich dieses grosse Interesse?
Anna. Ich vermute, das hat mit der Breite des Masterprogramms zu tun. Es umfasst nicht nur die Kernspaltung und -fusion, sondern auch die Nuklearmedizin und andere nukleare Technologien. Das Programm ist sehr interdisziplinär und komplett, das macht es besonders attraktiv.

Annalisa. Ich bin auch überrascht von der grossen Anzahl von Frauen. Vielleicht gibt es mit der steigenden Anzahl von Frauen in der Kerntechnik auch mehr Vorbilder, die junge Frauen für Nuclear Engineering motivieren. In den USA ist die Zahl der Studentinnen mit rund zehn Prozent leider recht klein, obwohl dort Frauen stark gefördert werden. Es gibt wohl in der akademischen Welt kein Masterprogramm im Nuclear Engineering, das so erfolgreich Frauen anzieht. Auch ist die Professur, die ich die ich jetzt von Professor Prasser übernehmen darf, sehr angesehen.

Annalisa, wenn Sie sich im Vorlesungssaal an der ETH vorstellen und die Hälfte der Gesichter, die Sie anblicken, sind Frauen – was empfinden Sie da?
Das ist eine sehr schöne Vorstellung. Ich bin glücklich und auch stolz darauf, sie in ihrer Entwicklung und Karriere unterstützen zu können. Vielleicht kann ich ja auch ein Vorbild sein.

Anna, Sie haben sich für Kerntechnik entschlossen, obwohl die Jobaussichten in Italien wie das Image der Kernenergie nicht gerade rosig sind. Was motiviert Sie, abgesehen von der spannenden Physik?
Unsere Generation ist sehr besorgt wegen dem Klimawandel. Die Kernenergie bietet nicht nur bei der Lösung dieses Problems so viele Vorteile. Und rational betrachtet ist sie vergleichsweise sicher. Die Auswirkungen der bisherigen Unfälle sind v.a. klein im Vergleich mit fossilen Energien, wo sehr viele Unfälle passieren und die Emissionen des Normalbetriebs tagtäglich das Klima und die Gesundheit des Menschen massiv schädigen. Leider ist in Italien das technische Verständnis für solche Dinge eher gering in der Bevölkerung. Ein sachlicher Dialog ist dementsprechend schwierig. Aber ich hoffe, dass meine Generation dies ändern kann.

Annalisa, ist Ihre Motivation für eine Arbeit in der Kerntechnik noch dieselbe wie zur Zeit Ihres Studienbeginns?
Meine Motivation hat sich sicher geändert, von der reinen Faszination für eine Technologie hin zu einem Verständnis für Ihre grosse Bedeutung für unsere Zivilisation. Auch die US-Regierung hat kürzlich erklärt, dass das Energie- und Klimaproblem nicht ohne Kernenergie gelöst werden kann. Die Europäische Union zieht nun mit und ist der Meinung, dass Kernenergie Teil des zukünftigen nachhaltigen Strommix ist. Erinnern Sie sich an den zweiwöchigen Schneesturm in Texas diesen Februar: Drei der vier Kernkraftwerke waren ununterbrochen am Netz, eines unterbrach die in diesem Wetter absolut wichtige Stromerzeugung nur für einen Tag. Alle Windkraft- und Photovoltaikanlagen waren hingegen zwei Wochen vom Netz. Die Windturbinen waren eingefroren. Der Gasverbrauch ging durch die Decke, ebenso der Gaspreis. Haushalte hatten plötzlich eine Gasrechnung von 17'000 $ im Monat. 150 Menschen sind an den Auswirkungen dieser Ereignisse gestorben. Das zeigt, wie extrem wichtig es ist, eine verlässliche Energiequelle zu haben. Jede Energietechnologie hat ihren Platz im System. Aber neben den erneuerbaren Energien gehört die Kernenergie zwingend dazu, weil sie die nötige hohe Versorgungssicherheit bietet, die Sonnen- und Windkraft eben fehlt. Es gibt keine Lösung ohne Kernenergie.

Sie wechseln nun aus den USA, wo die Bevölkerung der Kernenergie recht positiv gegenübersteht, in die Schweiz, die den schrittweisen Ausstieg aus der Kernenergie beschlossen hat. Was bedeutet das für Sie?
Ich möchte dazu beitragen, dass die Kernenergie hier wieder positiver wahrgenommen wird. Ich bin davon überzeugt, dass die Schweiz den Ausstiegsbeschluss letztlich ändern wird. Es bleibt Zeit, ihn zu überdenken, da zwei Kernkraftwerke noch länger in Betrieb stehen werden und die Versorgung noch gut ist. Allerdings ist die Schweiz jetzt schon von Importen abhängig, wenngleich nicht so stark wie Italien. Irgendwann wird aber der Strom knapp und Strom Importieren sehr schwierig. Vor allem, da überall der Strombedarf steigen wird, Deutschland seine Kernkraftwerke schon Ende 2022 abschaltet und ganz Europa dringend aus der Kohlekraft aussteigen muss.

Wie haben Sie Ihre Karriere als Frau in der akademischen Welt der Kerntechnik erlebt?
Ähnlich wie bei Anna waren wir damals im Studium vier Frauen in einer Klasse von 44. Das Studium dauerte durchschnittlich rund neun Jahre und glich einem «Survival of the fittest». Nichtsdestotrotz haben als erste zwei Frauen und ein Mann abgeschlossen. Die wenigen Frauen waren zumeist die Klassenbesten. Oft war ich die einzige. So war ich beispielsweise die erste Frau, die an der Uni Delft einen Doktortitel in Nuclear Engineering gemacht hat – 50 Jahre nach der Gründung der Abteilung. Die wenigen Frauen in der Kernenergie stechen überall heraus, und das Umfeld erinnert sich an sie.  Das sehe ich auch als Chance. Man kann leicht Eindruck machen, muss dafür aber auch sehr gut sein. Insgesamt war es eine gemischte Erfahrung. Ich habe Unterstützung von Männerseite erfahren, aber auch Skepsis zu spüren bekommen. In jedem neuen Arbeitsumfeld musste ich mich aufs Neue beweisen.

Die Nuklearbranche in der Schweiz ist jedenfalls sehr offen für Frauen und fördert sie nach Kräften. Der Arbeitsmarkt ist gut für die zukünftigen Absolventinnen. Annalisa, wie möchten Sie denn Ihre Lehrtätigkeit in der Schweiz angehen?
Mein Stil zu unterrichten ist sicher geprägt von meinen italienischen Professoren, die mich so inspiriert haben. Kernphysik ist wirklich sehr komplex und interdisziplinär. Als StudentIn muss man Elektronik, Fluiddynamik, Thermohydraulik, Chemie, empirische Wissenschaften und Teilchenphysik kombinieren und verstehen können, wie die verschiedenen Bereiche zusammen das Systemverhalten bestimmen. Die Studien sind sehr theoretisch und mathematisch. Man darf sich aber nicht in den mathematischen Gleichungen verlieren, ohne auch intuitiv zu erfassen, wie in etwa das Ergebnis aussehen wird. In unserem Gebiet arbeiten wir viel mit sehr komplexen Computercodes. Auch hierbei ist die Frage zentral, ob das Resultat plausibel ist. Ich zeige also auf, was die Theorie und das praktische Systemverhalten verbindet. Das kann man nicht aus Büchern lernen. Dazu unterrichte ich gerne in einer sehr informellen Atmosphäre und tausche mich intensiv mit den StudentInnen aus. Ich bombardiere sie mit Fragen, wir denken gemeinsam laut nach, und so lernen sie erfahrungsgemäss gut.

Anna würde gerne von Ihnen wissen, ob Sie das Unterrichtsprogramm im Masterstudium ändern möchten, und wenn ja wie?
Im meinem ersten Jahr an der ETH wird sich nichts ändern. Dieses Programm ist schon sehr gut. Zukünftige Änderungen werden nicht radikal sein. Aber ich bespreche solche Änderungen, wie beispielsweise die Einführung von sogenannten «Tracks» aktuell mit Prof. Prasser (der scheidende Professor für Nuclear Engineering) und Prof. Pautz (Professor für Reaktorsicherheit an der EPFL und Leiter des Forschungslabors für Kernenergie am Paul Scherrer Institut). Im Nuclear Engineering sind verschiedene Spezialisierungen möglich, z.B. auf medizinische Physik, Kernspaltungs- und Fusionsreaktoren, Radiochemie, Materialwissenschaften und anderes mehr. Tracks würden für StudentInnen mehr Klarheit schaffen, welche Möglichkeiten der Masterstudiengang bietet und eine frühere Spezialisierung auf ein bevorzugtes Thema erlauben.

Annalisa, wird der schrittweise Atomausstieg die Richtung der Forschung beeinflussen, die Sie leiten?
Mein Gebiet, die Fluiddynamik und Thermohydraulik, ist in vielen Energiebereichen ein Thema. Die Forschungsprojekte werden uns nicht ausgehen. Sicher möchte ich aber mit der Forschung dazu beitragen, den sicheren und effizienten Betrieb der bestehenden Kernkraftwerke zu verlängern. Auch wenn die Schweiz längerfristig aus der Kernenergie aussteigen will, so braucht es noch viele und gut ausgebildete Leute, um die Kernkraftwerke zu betreiben. Zudem wollen wir aber auch für die Zukunft forschen und mit spannenden Forschungsprojekten junge Forschende anziehen. So haben beispielsweise die NASA und das Los Alamos National Laboratory gemeinsam Mikroreaktoren entwickelt, die in der Marsmission zum Einsatz kommen – ohne Kernenergie wäre diese gar nicht möglich.

Die Forschung wird also weiterhin international ausgerichtet und in weltweite Zusammenarbeiten eingebettet sein?
Ja, gewiss. Ich habe in meinen zehn Jahren in den USA viele Beziehungen knüpfen und in vielen tollen Projekten mitwirken können. Vom Salzschmelze- über den Natriumreaktor und Leichtwasser- sowie gasgekühlte Reaktoren bis zu Mikroreaktoren war alles dabei. Diese Beziehungen werden sicher vorteilhaft für unsere zukünftigen Forschungstätigkeit sein.

Das klingt nach einem sehr grossen Spielfeld. Anna, möchten Sie nicht in die Forschung gehen? Was sind Ihre Pläne?
Ja, ich werde mich einer Forschungsgruppe an der ETH anschliessen, die sich mit Reliability und Risk Engineering befasst. Die Sicherheit und das zuverlässige Zusammenspiel aller Systemkomponenten ist zentral in der Kerntechnik, aber nicht nur dort, und damit möchte ich mich vertieft befassen.

Swissnuclear fördert einen grossen Teil der Kernforschung in der Schweiz. Wie sehen Sie, Annalisa, diese Zusammenarbeit im Hinblick auf die Unabhängigkeit der Forschung?
Ich stehe dieser Zusammenarbeit positiv gegenüber. Auch in den USA wird die Forschung teils vom Staat, teils von den Kernkraftwerksbetreibern und der Gesellschaft getragen. Da gibt es keinen Interessenskonflikt. Die Wissenschaft soll schliesslich dazu beitragen, unser Leben und das der ganzen Gesellschaft zu verbessern. Erkenntnisse auf Gebieten der Physik, die wir erforschen, können oft auch in anderen Bereichen als der Kerntechnik eingesetzt werden. Und letztlich profitieren auch alle davon, wenn der Betrieb der Kernkraftwerke immer besser und effizienter wird und damit der Strom sicherer, verlässlicher, kostengünstiger und umweltfreundlicher.  

Gibt es denn ein grosses übergeordnetes Ziel, das Sie mit ihrer Professur erreichen möchten?
In erster Linie will ich an der ETH so richtig Freude an der Forschung haben und diese Freude auf meine StudentInnen und Mitarbeitenden übertragen. Und natürlich will ich auch die bestehenden Kernkraftwerke beim sicheren und effizienten Betrieb unterstützen.

Möchten Sie ihrer Landsfrau Anna einen «schwesterlichen» Rat geben, da sie noch am Beginn ihrer Karriere in der akademischen Welt steht?
Wir bewegen uns in einem grossen multidisziplinären Feld mit vielen Optionen. Deshalb ist meine Empfehlung: Haben Sie keine Angst, Neues auszuprobieren, Teilgebiete zu wechseln, haben Sie vor allem auch keine Angst, Fehler zu machen, und lassen Sie sich nicht entmutigen, wenn etwas nicht gleicht funktioniert! Ich bin sicher, Anna hat eine sehr erfolgreiche Karriere vor sich.

Anna, haben Sie etwas, das Sie im Gegenzug Annalisa ans Herz legen möchten?
Ich wünsche ihr einfach ein tolles und produktives Labor und dass die Studenten sie lieben werden. Damit meine ich, dass sie sich gegenseitig gut verstehen und ineinander einfühlen können. So viele Professoren haben seit ihrem Studium ein so grosses Wissen angehäuft, dass sie ganz vergessen, wie wenig sie einmal wussten. Dort müssen Professoren aber die Studierenden abholen können. Ich glaube, Annalisa wird das hervorragend hinkriegen.

Vielen Dank Ihnen beiden für dieses bereichernde Gespräch!